combatmiles hat geschrieben: ↑Mo 30. Mär 2020, 13:58
ich würd ja gern das pdf hier reinhauen..
hab mal den Text kopiert..
Stellungnahme zur COVID19 Krise, 30.3.2019
Executive Summary
Mathias Beiglböck (Uni Wien), Philipp Grohs (Uni Wien), Joachim Hermisson (Uni Wien, Max
Perutz Labs), Magnus Nordborg (ÖAW), Walter Schachermayer (Uni Wien)
Mit Unterstützung der Rektoren Heinz Engl (Uni Wien) und Markus Müller (Med Uni)
FAKTEN
Für eine Epidemie ist die alles entscheidende Größe der Replikationsfaktor R 0 . Das ist die
Anzahl von Personen, die eine infizierte Person ihrerseits im Durchschnitt wieder ansteckt.
Wenn diese Zahl kleiner als eins ist, klingt die Epidemie mit exponentieller Geschwindigkeit ab.
Wenn sie größer als eins ist, so verbreitet sich die Epidemie unweigerlich mit exponentieller
Geschwindigkeit. Wenn es nicht gelingt, rasch den Faktor R 0 unter den Wert von 1 zu drücken,
sind in Österreich zehntausende zusätzliche Tote und ein Zusammenbruch des
Gesundheitssystems zu erwarten.
In einigen asiatischen Ländern ist es gelungen, den Ausbruch der Epidemie gänzlich zu
verhindern (Taiwan, Singapur) oder eine sich anfangs ungebremst ausbreitende Epidemie
einzudämmen (China, Südkorea). Diese Länder haben es geschafft, den Replikationsfaktor R 0
von anfänglichen Werten von etwa 4 auf einen Wert unter 1 zu drücken. Dies wurde durch
länderspezifische Maßnahmen-Bündel erreicht, ohne die Wirtschaft nachhaltig zu beschädigen.
In Europa gibt es nur wenig solide empirische Evidenz für ein wesentliches Absinken von R 0 . De
facto sind die registrierten COVID 19 Sterbefälle die bisher einzig verlässlichen Daten, die einen
Rückschluss auf die Entwicklung des Faktors R 0 zulassen. Deren Verlauf folgt mit einer
Verzögerung von etwa 14 Tagen parallel mit dem Verlauf der Ansteckungen.
Entwicklung der Todesfälle in Italien und Österreich.
Ein empirischer Hoffnungsschimmer kommt in Europa aus Italien. Dort wurden scharfe
Restriktionen am 8. März verhängt, um eine Woche früher als in Österreich. Daher verging
bereits genügend Zeit, sodass sich die Auswirkung der Restriktionen auf die Zahl der Todesfälle
niederschlagen konnte. Erfreulicherweise sinkt seit einigen Tagen der tägliche relative Zuwachs
der Sterbefälle in Italien, von ursprünglich 1.33 (vor drei Wochen) auf 1.10 (Mittel der letzten 4
Tage).
Diese Zahl muss dauerhaft unter den Wert von 1,07 absinken (dies entspricht einem
Replikationsfaktor von R 0 = 1; siehe Anhang über die mathematischen Grundlagen), um eine
Chance auf die Eindämmung der Epidemie zu haben. Davon sind wir in Italien trotz inzwischen
sehr strikter Maßnahmen noch entfernt.
In Österreich ging seit der Einführung der Sanktionen der tägliche relative Zuwachs der
Sterbefälle von 1,25 auf 1,21 zurück. Allerdings sind diese Daten mit großer statistischer
Unsicherheit behaftet, da ja die Anzahl der Sterbefälle in Österreich glücklicherweise noch
niedrig ist. Die Daten weisen in die richtige Richtung, erlauben allerdings noch keine validen
Aussagen.
MATHEMATISCHE MODELLE
Das international favorisierte epidemologische Prognose-Modell (unsere Implementierung ist
von den SEIR Modellen aus Basel und Harvard abgeleitet) beruht auf einer Liste von Vorgaben
für relevante Faktoren (wie zB dem Faktor R 0 ). Aus diesen Annahmen folgt in logisch
zwingender Weise die Entwicklung der relevanten Epidemie-Gruppen (Infizierte, Kranke,
Intensiv-Patienten, Gestorbene).
Wie jedes mathematische Modell kann es nur Aussagen der Form “wenn, dann” treffen.
Wir haben das SEIR Modell auf die österreichische Situation angepasst. Bei Vorgabe eines
Werts von R 0 = 0.9 ergibt sich zB folgende Entwicklung im Bedarf an Intensivbetten und den
erwarteten Todesfällen:
Diese Entwicklung hängt aber entscheidend von der optimistischen Annahme R 0 = 0,9 ab.
Wenn wir andererseits einen täglichen Zuwachs der Infizierten von 14% (wie in Österreich
derzeit geschätzt) bzw. 30% (wie am Anfang der Epidemie) für die Zukunft annehmen, so ergibt
sich folgende Entwicklung:
Das Modell eignet sich gut, um Veränderungen in den zugrunde liegenden Vorgaben zu
analysieren. In Anhang 2 haben wir die Entwicklung in Österreich unter folgenden zwei
Alternativ-Vorgaben hochgerechnet:
A. Vermeidung jeder Übertragung durch das Gesundheitspersonal (was regelmäßige
Tests, Schutzkleidung, sowie strenge Isolierung voraussetzt)
B. Gesundheitspersonal als wesentliche Überträger “ superspreader ”, wie in Italien
beobachtet (10% aller Infizierten dort sind Gesundheitspersonal, > 50 Ärzte gestorben)
Es zeigt sich ein starker Effekt auf die Überlastung des Intensivbereichs und die erwarteten
Todeszahlen in Österreich.
Dies ist nur ein Beispiel, wie mit diesem Modell die Veränderung der Vorgaben analysiert
werden kann. Zur Evaluierung von anderen geplanten Maßnahmen kann dieses tool — ceteris
paribus — quasi auf Knopfdruck analoge Abschätzungen der Folgen geben.
EMPFEHLUNGEN
A. Zentrale Empfehlung:
Das wichtigste Ziel muß sein, R0 unterhalb von 1 zu drücken. Keinesfalls dürfen
Hoffnungen auf eine baldige Lockerung der Restriktionen geweckt werden. Wahrscheinlich
benötigt dies deutlich strengere Maßnahmen als derzeit in Kraft sind. Unter der realistischen
Annahme R 0 = 1.7 wird unser Gesundheitssystem Mitte April zusammenbrechen. Um dies zu
verhindern, bleibt kaum Zeit.
Das Beispiel von Wuhan gibt auch Hoffnung: nachdem China es - in zwei Schritten - geschafft
hatte, dort den Wert von R 0 auf 0,32 zu drücken, war die Krise innerhalb weniger Wochen
bewältigt.
Aus einem Vortrag von Xihong Lin, Harvard University.
Der Mix der Restriktionen (siehe unten Graphik “NPI Measures Per country” für einen Überblick
über die international eingesetzten Maßnahmen) kann verändert werden. Zum Beispiel mit einer
Maskenpflicht im öffentlichen Raum und stärkerem Einsatz von Tests. Beide Maßnahmen
wurden von allen erfolgreichen Ländern praktiziert. Aber die Gesamt-Auswirkung des Mix auf
den Wert von R 0 darf sich keinesfalls verschlechtern.
All dies gilt natürlich nur, bis ein flächendeckender Einsatz von Impfungen möglich ist.
B. An speziellen Maßnahmen geben wir noch folgende punktuelle Anregungen:
1. Rigorose Umsetzung der bisherigen Maßnahmen: zB Kontrolle der Anzahl der
KundInnen im Supermarkt durch Sicherheitspersonal, rigoroses Abmahnen bei
Zuwiderhandlung.
2. Spezieller Fokus auf das medizinische Personal, insbesondere durch regelmäßiges
Testen. Dies würde von dieser extrem exponierten Personengruppe sicher positiv
aufgenommen werden.
3. Maßnahmen zur Eindämmung von Ansteckungen durch asymptomatisch infizierte
Personen wie etwa das Personal von Supermärkten. Verstärktes Testen, auch durch
bisher nicht validierte Tests aus Forschungslaboren.
4. Stärkerer Einsatz von Gesichtsmasken (sofern die Versorgung sichergestellt ist). Auch
wenn der individuelle Schutz von Gesichtsmasken nicht sehr hoch sein mag, scheint der
statistische Effekt auf die Ausbreitung der Krankheit erheblich zu sein.
5. Tracking der Kontakte von Infizierten in den Tagen vor dem Test unter Mithilfe von
Handydaten.
6. Risikogruppen und insbesondere Erkrankte mit leichten Symptomen sollten besser
isoliert werden. Ideal wäre es, einen Versorgungsdienst von Lebensmitteln für die
Risikogruppe zu organisieren.
7. Einrichtung von speziellen “fever hospitals”, d.h. Einrichtungen die speziell für
Covid19-Infizierte reserviert sind.
ANHANG 1: EINIGE MATHEMATISCHE GRUNDLAGEN UND
SCHLUSSFOLGERUNGEN
- Grundlegende Kenngröße der Ausbreitung ist der Wert R 0 :
R 0 ist die durchschnittliche Anzahl der Leute die ein Infizierter ansteckt, bevor er wieder gesund wird
oder stirbt.
(Um genau zu sein hängt die Anzahl der Leute die ein Infizierter im Schnitt ansteckt natürlich davon ab,
wie viele Leute schon immun sind. Wenn aber nur ein paar Prozent der Bevölkerung infiziert sind, kann
man diesen Effekt zu Beginn einer Epidemie vernachlässigen)
- Bedeutung von R 0 :
Nehmen wir an R 0 = 2. Dann steckt jeder Kranke im Schnitt 2 neue an. Innerhalb eines “Zyklus”
verdoppelt sich die Anzahl der Infizierten. Aus 1 Infizierten werden 2, dann 4, dann 8, etc. Nach 16
Wiederholungen haben wir über 100 000 Infizierte. Wir sind in der viel zitierten Phase des
exponentiellen Wachstums .
Im Fall von Covid19 haben wir ungefähr R 0 = 2.8 falls keine Maßnahmen ergriffen werden. Ziel unserer
Maßnahmen ist stets den Wert R 0 möglichst nach unten zu drücken.
Besonders wichtig ist der Fall R 0 = 1. Hier steckt jeder Infizierte gerade eine neue Person an. Da der
Infizierte selbst wieder gesund wird, breitet sich die Krankheit nicht weiter aus.
Allgemein gilt, dass sich die Krankheit ausbreitet falls R 0 größer als 1 ist. Das Wachstum ist zunächst
exponentiell schnell. Dieses Wachstum kommt erst zum Stillstand sobald der Anteil der Immunisierten
in der Bevölkerung groß genug ist. Wie groß dieser Anteil sein muß, hängt stark von R 0 ab: Falls R 0 =
2.8 breitet sich die Infektion sehr weit aus: das Wachstum endet erst wenn etwa 65% infiziert wurden.1
Falls R 0 = 1.02 stoppt das Wachstum wenn etwa 2% Bevölkerung infiziert wurden.
Ist andererseits R 0 < 1, dann stirbt die Krankheit exponentiell schnell aus. Dieser Fall ist natürlich
besonders erstrebenswert.
- In den Medien ist nicht von R 0 die Rede, sondern eher vom Prozentsatz der täglich neu Infizierten.
Man kann aber jeweils den einen Wert aus dem anderen ausrechnen: Zum Beispiel entspricht der
1 Falls 65% der Leute auf die ein Infizierter trifft schon immun sind, kann der Kranke nur 2.8*0.35 ~ eine
neue Personen anstecken. Und da der Kranke selber wieder gesund wird, verbreitet sich die Krankheit
nicht weiter.
wichtige Fall R 0 =1 im Fall von Covid19 einem täglichen Zuwachs von etwa 7%. Mehr 2 als 7% tägliches
Wachstum führt zur exponentiellen Ausbreitung.
- Ein weiteres gebräuchliches Konzept ist die Anzahl der Tage die es braucht bis sich die Anzahl der
neu Infizierten verdoppelt. Man kann auch aus diesem Wert die jeweiligen anderen ausrechnen: zum
Beispiel entspricht ein täglicher Zuwachs von 20% einer Verdopplungszeit von etwa 4 Tagen.
Schlußfolgerungen für Entscheidungsträger:
Wir haben nur begrenzt Intensivbetten und Beatmungsgeräte zur Verfügung und diese Zahl läßt sich
auch nur begrenzt steigern. Diese Kapazität ist ausgelastet sobald etwa 125 000 Personen (1.5% der
Bevölkerung) gleichzeitig angesteckt sind.3
Ab diesem Bereich müssen wir etwa entscheiden, nach welchen Kriterien Patienten nicht mehr beatmet
werden sollen. Die Todesrate wird dadurch stark erhöht.
Ganz allgemein wollen wir exponentielles Wachstum tunlichst vermeiden. Sobald R 0 längerfristig über 1
liegt, sagen Modelle für Österreich etwa 100.000 zusätzliche Tote voraus.
Mittelfristig bieten sich zwei Strategien an:
1) Kontrolliertes Erreichen von Herdenimmunität: Man hält die Maßnahmen stets so streng, das
höchstens 1.5% der Bevölkerung erkrankt sind. Das entspricht einem Wert von R 0 im Bereich zwischen
1 und 1.02.
Ein Problem dieser Strategie ist, dass es relative lange (wohl mehr als 12 Monate) dauert bis sich eine
hinreichende Herdenimmunität einstellt. Eine weitere Gefahr besteht darin, dass die Immunität die
Genesene gegenüber Covid19 entwickeln nicht vollständig ist (dafür gibt es erste Anzeichen). Es ist
möglich, dass sich ein Teil der Genesenen nach einem Jahr erneut anstecken kann. Das stellt die Idee
der Herdenimmunität in Frage.
2) Falls es gelingt den Wert von R 0 unter 1 zu drücken (zb: R 0 = 0.9), dann stirbt die Krankheit
exponentiell schnell aus. Diese Strategie wird anscheinend z.B. in China und Südkorea erfolgreich
angewandt. Bei einer viel geringeren Fallzahl hat man die Möglichkeit, alle Verdachtsfälle und ihre
Kontakte zu isolieren und zu testen (contact tracing). Ein Problem hier ist, dass dies mit großer
Konsequenz so lange durchgeführt werden muss, bis es eine Impfung oder gute Medikamente gibt.
2 Das hängt damit zusammen, dass ein Covid19 Infizierter etwa 10 Tage infektiös ist. Bei einem täglich
Wachstum von 7 Prozent, sind nach 10 Tagen zwar 1.07^10 ~ 2 mal soviele Leute infiziert. Da aber die
anfangs Infizierten dann nicht mehr ansteckend sind, breitet sich die Krankheit nicht weiter aus.
3 Man geht davon aus, dass rund 2% der Infizierten Intensivpflege benötigen (von denen rund die Hälfte
sterben) und ~ 2500 Betten für Covid19 Patienten zur Verfügung stehen. Die genauen Werte hängen
auch davon ab, wie lange Patienten im Schnitt intensivmedizinisch betreut werden müssen und wie sehr
wir die Kapazitäten der Intensivstationen ausbauen können. Wenn das Wachstum exponentiell ist, heißt
ein zusätzlicher Faktor 2 in der Kapazitäten aber nur, dass, diese ein paar Tage später ausgeschöpft ist.
Anhang 2: Übertragungen im Gesundheitsbereich
● Epidemiologisches SEIR Modell auf Grundlage von Covid-19 Modellen der Uni Basel
und Harvard University
● Auf Österreich adaptiert und an die verfügbaren Daten angepasst (Zahlen Infektionen,
Intensiv-Fälle, Todesfälle, Kapazität Intensivbetten)
Modellierte Szenarien
Motivation: Ärzte und Pflegepersonal können Virus ”superspreader” sein
● Evidenz u.a. aus Italien, dass dies ein massives Problem ist (10% aller Infizierten sind
Gesundheitspersonal, > 50 tote Ärzte), von WHO als “enorme Bedrohung” eingeschätzt:
● Drei Szenarien
1. Übertragungsrate im Gesundheitsbereich analog zu Gesamtbevölkerung
2. Erhöhte Übertragungsrate im Gesundheitsbereich: Superspreader Szenario
3. Totale Quarantäne: Schutzmaßnahmen und engmaschige Tests verhindern jede
Übertragung aus dem Gesundheitsbereich
● Alle drei Szenarien berücksichtigen die derzeitigen lockdown Maßnahmen in Österreich
und nehmen an, dass diese
i) wirksam sind, sodass sich ein R0 < 1 ergibt (!)
ii) beibehalten werden (!)
● Im Modell zeigt sich folgendes Bild: während in Szenario 1 die Kapazität an
Intensivbetten voll ausgeschöpft wird, bleibt in Szenario 3 eine signifikante Reserve. In
Szenario 2 hingegen kommt es zu einer massiven Überlastung des Gesundheitssystems
mit tausenden zusätzlichen Toten.
Diskussion
Übertragungen im Gesundheitsbereich können ein massives Problem sein, welches
jedoch aus den heutigen Daten in Österreich noch nicht sichtbar ist (siehe aber Italien, wo es
bereits klar sichtbar ist). Es ist unbedingt notwendig, alles zu tun, um zu einer sicheren
Quarantäne zu kommen:
1. Strenge und kontrollierte Separierung von Infizierten, inklusive von Verdachtsfällen.
Kontrollierte Quarantäne war insbesondere in China eine sehr erfolgreiche Strategie.
2. Schutz von Ärzten, Pflegepersonal (Masken, Schutzanzüge). Hohe Gefährdung durch
hohe viral load, auch jüngere Ärzte überproportional betroffen und können sterben
3. Engmaschige Tests für Gesundheitspersonal um weitere Verbreitung zu stoppen
Modellvorhersagen hängen stark von Faktoren ab, die heute noch nicht bekannt sind
● Hier nur beispielhaft ein relevanter Faktor modelliert (Gesundheitsbereich). Andere
Bereiche (zB Supermarkt-Personal) können ebenso relevant sein.
● Bei vielen Faktoren können die Effekte heute noch nicht in den Daten sichtbar sein (hier:
die Krankenhäuser füllen sich gerade erst).
● Sichere Modellvorhersagen, die solche (sehr realistischen) Gefahren ausschließen, sind
deshalb grundsätzlich nicht möglich.